Patanjalis Yoga Sutra

4. Kapitel KAIVALYA PADA

Das letzte Kapitel ist weniger strukturiert und beschäftigt sich zum Teil mit bereits behandelten Themen, aber schließlich auch die Befreiung des Selbstes durch den Yoga.hrnehmung, und er schließt mit dem Thema über Befreiung ab.

Im vierten Kapitel geht es dem Titel nach um Befreiung, Kaivalya. Allerdings ist dieses Kapitel eher unzusammenhängend aufgebaut, und man hat den Eindruck, dass Patanjali hier alle Verse mit einfügt, die er bisher noch nicht unterbringen konnte. Er thematisiert erneut die übernatürlichen Kräfte, und woher sie kommen könnten. Er geht auf das Thema Karma ein, auf den Unterschied zwischen Citta und Purusa (Geist und Selbst), auf das Wesen des Gedankens, auf die Wahrnehmung, und er schließt mit dem Thema über Befreiung ab.

Kaivalya Pada

कैवल्यपाद

Kaivalya-Pāda

 

जन्मओषधिमन्त्रतपस्समाधिजाः सिद्धयः ॥१॥

janma-oṣadhi-mantra-tapas-samādhi-jāḥ siddhayaḥ ||1||
Übernatürliche Kräfte (Siddhi), entstehen durch Geburt, Drogen, Mantra, Askese oder durch das Yoga (Samadhi). ||1||

 

जात्यन्तरपरिणामः प्रकृत्यापूरात् ॥२॥

jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt ||2||
Aus der physischen Vervollkommnung entsteht eine innere Verwandlung des Wesens. ||2||

 

निमित्तमप्रयोजकं प्रकृतीनांवरणभेदस्तु ततः क्षेत्रिकवत् ॥३॥

nimittam-aprayojakaṁ prakṛtīnāṁ-varaṇa-bhedastu tataḥ kṣetrikavat ||3||
Jedoch ist die äußere Ursache nicht ausreichend für die innere Verwandlung. Aber sie ist wie der Bauer, der den Bewässerungswall spaltet, damit Wasser auf das Reisfeld gelangt und der Reis wachsen kann. ||3||

 

निर्माणचित्तान्यस्मितामात्रात् ॥४॥

nirmāṇa-cittāny-asmitā-mātrāt ||4||
Allein aus der Identifikation mit dem Wandelbaren entsteht das wandelbare Selbst (Chitta). ||4||

 

प्रवृत्तिभेदे प्रयोजकं चित्तमेकमनेकेषाम् ॥५॥

pravṛtti-bhede prayojakaṁ cittam-ekam-anekeṣām ||5|
| Die Erscheinungsformen unterscheiden sich, die wandelbare Natur (Chitta) ist das eine zugrunde liegende Prinzip der vielen Formen. ||5||

 

तत्र ध्यानजमनाशयम् ॥६॥

tatra dhyānajam-anāśayam ||6||
In den unterschiedlichen Erscheinungsformen ist der Eindruck, der durch die Versenkung (Dhyana) entsteht, frei von äußeren Bedingungen. ||6||

 

कर्माशुक्लाकृष्णं योगिनः त्रिविधमितरेषाम् ॥७॥

karma-aśukla-akṛṣṇaṁ yoginaḥ trividham-itareṣām ||7||
Für einen Yogi ist das Gesetz von Ursache und Wirkung (Karma) weder weiß noch schwarz. Für andere ist es von dreierlei Art. ||7||

 

ततः तद्विपाकानुग्णानामेवाभिव्यक्तिः वासनानाम् ॥८॥

tataḥ tad-vipāka-anugṇānām-eva-abhivyaktiḥ vāsanānām ||8||
Nach diesem Gesetz von Ursache und Wirkung reifen die Früchte, die den zugrunde liegenden Wünschen (Vasana) entsprechen. ||8||

 

जाति देश काल व्यवहितानामप्यान्तर्यां स्मृतिसंस्कारयोः एकरूपत्वात् ॥९॥

jāti deśa kāla vyavahitānām-apy-āntaryāṁ smṛti-saṁskārayoḥ ekarūpatvāt ||9||
Auch wenn Modalität, Ort und Zeit nicht mehr bestehen, besteht dennoch Kontinuität von Wunsch und Folge, denn Erinnerungen (Smriti) und Prägungen (Samskara) gehören zum gleichen Wesen. ||9||

 

तासामनादित्वं चाशिषो नित्यत्वात् ॥१०॥

tāsām-anāditvaṁ cāśiṣo nityatvāt ||10||
Die Kontinuität aus Wunsch und Resultat sind ohne Anfang, wie der Wunsch zu leben ohne Ende ist. ||10||

 

हेतुफलाश्रयालम्बनैःसंगृहीतत्वातेषामभावेतदभावः ॥११॥

hetu-phala-āśraya-ālambanaiḥ-saṁgṛhītatvāt-eṣām-abhāve-tad-abhāvaḥ ||11||
Die Kontinuität von Wunsch und Resultat entspringt den unterstützenden Faktoren und äußeren Objekten. Verschwinden diese, verschwindet auch die Kontinuität aus Wunsch und Resultat. ||11||

 

अतीतानागतं स्वरूपतोऽस्तिअध्वभेदाद् धर्माणाम् ॥१२॥

atīta-anāgataṁ svarūpato-'sti-adhvabhedād dharmāṇām ||12||
Vergangenheit und Zukunft existieren für sich. Aus den Veränderungen ergeben sich die Aufgaben (Dharma). ||12||

 

ते व्यक्तसूक्ष्माः गुणात्मानः ॥१३॥

te vyakta-sūkṣmāḥ guṇa-atmānaḥ ||13||
Diese Aufgaben sind manifest oder subtil, physisch oder spirituell. ||13||

परिणामैकत्वात् वस्तुतत्त्वम् ॥१४॥

pariṇāma-ikatvāt vastu-tattvam ||14||
Die Einzigartigkeit der Veränderung macht die Essenz von allem aus. ||15||

 

वस्तुसाम्ये चित्तभेदात्तयोर्विभक्तः पन्थाः ॥१५॥

vastusāmye citta-bhedāt-tayorvibhaktaḥ panthāḥ ||15||
Das Wandelbare des Menschen (Chitta) geht auf verschiedenen Wegen auf das gleiche Objekt zu. Die Wahrnehmung unterscheidet sich entsprechend. ||15||

न चैकचित्ततन्त्रं चेद्वस्तु तदप्रमाणकं तदा किं स्यात् ॥१६॥

na caika-citta-tantraṁ cedvastu tad-apramāṇakaṁ tadā kiṁ syāt ||16||
Ein Objekt ist auch nicht abhängig vom Wandelbaren des Menschen (Chitta). Was würde geschehen, wenn es nicht gesehen wird? ||16||

 

तदुपरागापेक्षित्वात् चित्तस्य वस्तुज्ञाताज्ञातं ॥१७॥

tad-uparāga-apekṣitvāt cittasya vastu-jñātājñātaṁ ||17||
Ob ein Objekt, Situation oder Person jedoch erkannt oder verkannt wird, hängt von der emotionalen Vorprägung und den Erwartungen des Wandelbaren des Menschen (Chitta) ab. ||17||

 

सदाज्ञाताः चित्तव्र्त्तयः तत्प्रभोः पुरुषस्यापरिणामित्वात् ॥१८॥

sadājñātāḥ citta-vrttayaḥ tat-prabhoḥ puruṣasya-apariṇāmitvāt ||18||
Immer können die Vorgänge (Vritti) im Wandelbaren des Menschen (Chitta) vom wahren Selbst beobachtet werden, weil dieses wahre Selbst (Purusha) nicht in Bewegung ist. ||18||

 

न तत्स्वाभासं दृश्यत्वात् ॥१९॥

na tat-svābhāsaṁ dṛśyatvāt ||19||
Da das Wandelbare des Menschen nicht aus sich selbst erkennend ist, ist es ein wahrnehmbares Objekt. ||19||

 

एक समये चोभयानवधारणम् ॥२०॥

eka samaye c-obhaya-an-avadhāraṇam ||20||
Denn gleichzeitig können nicht beide Funktionen - Gesehen werden und das Sehen erfüllt sein. ||20||

 

चित्तान्तर दृश्ये बुद्धिबुद्धेः अतिप्रसङ्गः स्मृतिसंकरश्च ॥२१॥

cittāntara dṛśye buddhi-buddheḥ atiprasaṅgaḥ smṛti-saṁkaraś-ca ||21||
Das Wandelbare des Menschen (Chitta), das durch einen anderen wandelbaren Menschen (Chitta) gesehen wird, wäre so absurd wie die Wahrnehmung von der Wahrnehmung. Sie würde zur Verwirrung in der Erinnerung führen. ||21||

 

चितेरप्रतिसंक्रमायाः तदाकारापत्तौ स्वबुद्धि संवेदनम् ॥२२॥

citer-aprati-saṁkramāyāḥ tad-ākāra-āpattau svabuddhi saṁ-vedanam ||22||
Das wahre Selbst ist im Gegensatz zur Eigenschaft des Wandelbaren des Menschen nicht unstet. Daher kann es vollkommenes Wissen und Selbsterkenntnis erreichen. ||23||

 

द्रष्टृदृश्योपरक्तं चित्तं सर्वार्थम् ॥२३॥

draṣṭṛ-dṛśy-opa-raktaṁ cittaṁ sarva-artham ||23||
Der eigentliche Sinn des Wandelbaren des Menschen (Chitta) ist es, sowohl dem Betrachter (Drashtu) als auch dem betrachteten Objekt nahe zu sein. ||23||

 

तदसङ्ख्येय वासनाभिः चित्रमपि परार्थम् संहत्यकारित्वात् ॥२४॥

tad-asaṅkhyeya vāsanābhiḥ citram-api parārtham saṁhatya-kāritvāt ||24||
Dieses Wandelbare des Menschen (Chitta) hat unzählige und mannigfaltige Wünsche (Vasana). Trotzdem ist sein Sinn ein anderer, nämlich die Verbindung von Umwelt und wahrem Selbst herzustellen. ||24||

 

विशेषदर्शिनः आत्मभावभावनानिवृत्तिः ॥२५॥

viśeṣa-darśinaḥ ātmabhāva-bhāvanā-nivṛttiḥ ||25||
Für den, der diese einzigartige Schau (Darshana) erlangt hat, verschwindet der Wunsch (Vritti) nach Selbstverwirklichung. ||25||

 

तदा विवेकनिम्नं कैवल्यप्राग्भारं चित्तम् ॥२६॥

tadā viveka-nimnaṁ kaivalya-prāg-bhāraṁ cittam ||26||
Dann wird Unterscheidungskraft (Viveka) vertieft und alles Wandelbare des Menschen (Chitta) weist den Weg zur Befreiung (Kaivalya). ||26||

 

तच्छिद्रेषु प्रत्ययान्तराणि संस्कारेभ्यः ॥२७॥

tac-chidreṣu pratyaya-antarāṇi saṁskārebhyaḥ ||27||
Diese Sichtweise wird durch Vorprägungen (Samskara) wieder abgebrochen, dann tauchen andere Eindrücke wieder auf. ||27||

 

हानमेषां क्लेशवदुक्तम् ॥२८॥

hānam-eṣāṁ kleśavad-uktam ||28||
Die Beseitigung dieser Vorprägungen erfolgt wie es schon für die spirituellen Bürden (Klesha) beschrieben wurde. ||28||

 

प्रसंख्यानेऽप्यकुसीदस्य सर्वथा विवेकख्यातेः धर्ममेघस्समाधिः ॥२९॥

prasaṁkhyāne-'py-akusīdasya sarvathā vivekakhyāteḥ dharma-meghas-samādhiḥ ||29||
Bei wirklich tiefer Erkenntnis entsteht sogar fortwährende Wunschlosigkeit und Unterscheidungskraft (Viveka) folgt. Das wird Dharma-Megha-Samadhi genannt. ||29||

 

ततः क्लेशकर्मनिवृत्तिः ॥३०॥

tataḥ kleśa-karma-nivṛttiḥ ||30||
Dann wird das Konzept (Vritti) der spirituellen Bürden (Klesha) und von Ursache und Wirkung (Karma) vollkommen abgelegt. ||30||

 

तदा सर्वावरणमलापेतस्य ज्ञानस्यानन्त्यात् ज्ञेयमल्पम् ॥३१॥

tadā sarva-āvaraṇa-malāpetasya jñānasya-ānantyāt jñeyamalpam ||31||
Dann fallen sämtliche Schleier und Unreinheiten. Das Wissen, das erlangt werden kann, wird unbedeutend im Vergleich zur Unendlichkeit des Wissens. ||31||

 

ततः कृतार्थानं परिणामक्रमसमाप्तिर्गुणानाम् ॥३२॥

tataḥ kṛtārthānaṁ pariṇāma-krama-samāptir-guṇānām ||32||
Hierdurch erfüllt sich der Sinn der Veränderung und alle Wandlung (Krama) der Materie (Guna) findet ihr Ende. ||32||

 

क्षणप्रतियोगी परिणामापरान्त निर्ग्राह्यः क्रमः ॥३३॥

kṣaṇa-pratiyogī pariṇāma-aparānta nirgrāhyaḥ kramaḥ ||33||
Die Empfindung der bedingten Aufeinanderfolge der Augenblicke und Wandlungen nimmt ihr endgültiges Ende. Die Wandlung (Krama) wird so erfahrbar. ||33||

 

पुरुषार्थशून्यानां गुणानांप्रतिप्रसवः कैवल्यं स्वरूपप्रतिष्ठा वा चितिशक्तिरिति ॥३४॥

puruṣa-artha-śūnyānāṁ guṇānāṁ-pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpa-pratiṣṭhā vā citiśaktiriti ||34||
Befreiung (Kaivalya) erfüllt das Ziel des wahren Selbst (Purusha), die Materie (Guna) wird überwunden. Dann zeigt sich die wahre Natur des Seins und die Kraft des absoluten Wissens. ||34||

 

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